Offener Brief an die WOZ (4.8.23)

Liebe Nathalie Schmidhauser, liebe WOZ-Redaktion, liebes WOZ-Kollektiv,

Am 3. August 2014 begann der 74. Ferman gegen die Ezid:innen – so bezeichnen sie die (versuchten) Genozide gegen ihre Gemeinschaft – durch den “Islamischen Staat” im Süden Kurdistans (Bashur im Nordirak). Das gesamte ezidische Volk sollte ausgelöscht werden, gezielt richtete sich der Angriff gegen Frauen, der Genozid war zugleich Feminizid.

Jene, die die Ezid:innen hätten schützen sollen – 12’000 Peschmerga der dortigen Regierungspartei PDK -, flohen aus dem Şengal und überliessen die Ezid:innen dem islamistischen Feind. Die Menschen flohen in die Berge. Dort schützten sie zunächst ein Dutzend Guerillakämpfer:innen der HPG – der bewaffnete Arm der PKK – bevor weitere Bataillone der Volks- und Frauenverteidigungseinheiten YPG/YPJ aus Rojava (auch sie affiliert mit der PKK) nachrückten, diese gemeinsam einen Fluchtkorridor freikämpften und so zehntausende Ezid:innen nach Rojava evakuierten.

Vor neun Jahren, am 3. August 2014, waren es Kräfte der kurdischen Freiheitsbewegung, massgeblich geprägt von der PKK, die einen Genozid – die Auslöschung des ezidischen Volks durch den “Islamischen Staat” – verhinderten.

Nun, neun Jahre später, begeht die WOZ diesen Jahrestag am 3. August 2023 mit der Veröffentlichung eines Artikels gegen die PKK, der in seinem Inhalt nicht bloss unsolidarisch, sondern demagogisch ist (“Das Leben nach der Revolution”). Wüsste man es nicht besser, meinte man bei der Lektüre eine türkische Regierungszeitung in den Händen zu halten. Was für eine Schande.

Als (vermeintlich?) linke Zeitung ist man parteiisch für die Sache der Ausgebeuteten und Unterdrückten, parteiisch für die Kämpfe derselben gegen Ausbeutung und Unterdrückung, parteiisch für die Kräfte, die innerhalb dieser Kämpfe wirken. Das heisst nicht, dass eine Kritik aus den Metropolen an den Kämpfen in den Weltregionen, die oft und lange genug durch diese Metropolen gegängelt wurden und weiterhin werden, nicht möglich ist. Aber gewiss sollte eine solche Kritik von einer gesunden Portion Demut gekennzeichnet sein, gewiss sollte sich eine Kritik an Freund:innen von einer Kritik an Feind:innen unterscheiden.

Die WOZ entscheidet sich für eine Kritik ohne Solidarität, ohne Differenzierung, ohne Versuch nachzuvollziehen, weshalb die Bedingungen der politischen Arbeit einer illegalen kämpfenden Partei, die es seit nunmehr 45 Jahren gibt, die konfrontiert ist nicht nur mit der zweitgrössten NATO-Armee – jene der Türkei – als unmittelbarem Feind, sondern auch mit der Feindschaft der restlichen NATO (wieviele sitzen in Deutschland hinter Gittern? wieviele sollen aus Schweden noch an die Türkei ausgeliefert werden? wie hoch wollen die USA das Kopfgeld auf PKK-Kader setzen?), sich von jenen Bedingungen unterscheiden mögen, die links-liberale Journalist:innen in einem der reichsten Länder der Welt kennen.

So verteufelt man die PKK im Artikel und dient damit letztlich nur dem Feind, jenen, die weiter ausbeuten und unterdrücken wollen. Im Palast in Ankara muss man sich ins Fäustchen lachen, wenn angesichts anhaltender Drohnenangriffe in Rojava, bei denen praktisch wöchentlich zentrale Figuren des Widerstands exekutiert werden, wenn angesichts anhaltender Giftgasangriffe in den kurdischen Bergen, vor denen sich Genoss:innen mit Gasmasken zu schützen versuchen, wenn angesichts Stauungen der Flüsse, die von der Türkei nach Syrien fliessen, die gesamte Zivilbevölkerung angegriffen wird, wenn angesichts des 100. Jubiläums der Unterzeichnung des Lausanner Vertrags, der die Kolonisierung Kurdistans festschrieb, die WoZ nichts besseres weiss, als einen solchen Schund gegen die PKK zu veröffentlichen.

Es könnte anders sein. Wer sich im in den Metropolen, im globalen Norden, als links(-liberal) versteht, sollte sich Gedanken über die eigene Rolle und Möglichkeiten der Solidarität mit emanzipatorischen Bewegungen im globalen Süden machen. Eine sich links positionierende Redaktion könnte beispielsweise den vielen geflüchteten Journalist:innen die Möglichkeit geben, in ihrer Zeitung Artikel zu veröffentlichen – es sind nun wirklich genug linke kurdische und türkische Freund:innen mit entsprechendem Hintergrund in die Schweiz geflohen. Man könnte zum Beispiel auch die Beziehungen der Schweiz mit der Türkei genauer anschauen und die Komplizenschaften der Herrschenden denunzieren (in Form vom Freihandelsabkommen EFTA-Türkei etwa). Man könnte die zahlreichen Mobilisierungen und Anlässe der kurdischen Bewegung in der Schweiz bewerben oder gar besuchen und so weniger vom Schreibtisch aus urteilen und mehr auf Augenhöhe diskutieren.

Möglichkeiten der Solidarität gibt es viele. Ihre Notwendigkeit könnte angesichts globaler Kräfteverhältnisse zwischen Reaktion und Emanzipation kaum grösser sein. Für Indifferenz, Neutralität oder – wie in diesem Fall – üble Hetze haben wir weder Verständnis noch Geduld oder Zeit.

Rojava Komitee Zürich, 4.8.2023

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Das Rojava Komitee Zürich gibt es seit bald neun Jahren. Der kurdische Kulturverein Dem Kurd sowie die Frauenorganisation Beritan sind Teil davon, zusammen mit verschiedenen Gruppen und Einzelpersonen aus der ausserparlamentarischen Linken.

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